Walhalla 2

Intervention / Performance / Ausstellung / Publikation ― PARA International (Peter Behrbohm, Josephine Hans, Bastian Sistig & Kolja Vennewald) ― Berlin + Hamburg, 2018

Im Herzen von Hamburg und Berlin wird mit minimalinvasiven Techniken nach den Ruinen eines Nationaldenkmals gegraben. Wie sich zeigt, stammen die Funde des zweiten Walhalla gar nicht aus der Vergangenheit, vielmehr scheinen sie die Folge aktueller politischer Entwicklungen zu sein. Auf welche Zukünfte steuern wir mit großen Schritten zu und wie lassen sie sich vorab ruinieren? Die Entdeckungen werden im Dokumentationszentrum Zukunft der Öffentlichkeit präsentiert.

WALHALLA 2 ist ein Denkmal, das es gegeben haben wird. Ein Ort, der durch die Tendenzen der Gegenwart denkbar geworden ist - die spekulative Archäologie und Aufarbeitung einer möglichen Epoche. Zwischen September und Oktober 2018 werden im öffentlichen Stadtraum von Hamburg und Berlin archäologische Ausgrabungen durchgeführt, um Dokumente, Reste, Ruinenteile und Beweismittel eines zukünftigen WALHALLA 2 Denkmals zu bergen. Spuren und Lücken und Varianten einer kommenden Geschichte. Die Artefakte einer spekulativen Zukunft werden im Rahmen zweier Sonderausstellungen in Hamburg und Berlin der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Für zwei Wochen präsentiert das Dokumentationszentrum Zukunft unter dem Titel THE FUTURE WAS MIGHT BE CONFUSING die spektakulären Funde in Hamburg und Berlin.

Die Sonderausstellungen versprechen Aufarbeitung des Kommenden, Einfühlung in das Mögliche, und kritische Reflexion auf eine Epoche, die auf manche noch wartet, die einige herbeisehnen und andere zerstören werden.

Wie verantwortlich ist Ästhetik und wie machtvoll das Dokument, die Zeugen und die Phantasie? Bei Walhalla II geht es um die Frage, ob eine spekulative Archäologie in der Lage ist in ein störendes Verhältnis zur Wirklichkeit zu treten. Das Dokumentationszentrum reagiert damit auf eine politische Praxis, die ständig neue, auf Fiktionen beruhende Echokammern generiert.

2015 forderten Politiker, in Deutschland wieder Denkmäler statt Mahnmale zu errichten. Dieses Projekt gräbt die Ruinen dieser möglichen Zukunft aus.

Versuch einer Deutung - Walhalla Connectors

Die Demokratie war erloschen, meinten die, die sich in der Minderheit befanden. Sie sei auf dem Höhepunkt, meinten die anderen. In den späten 2020er - 2030er Jahren war die Parteienlandschaft vollkommen zersplittert. Für alles und jeden gab es auf einmal eine Partei. Nicht selten mussten zwölf oder mehr Gruppierungen gemeinsam die Regierung übernehmen. Koalitionsverhandlungen liefen in der Regel die gesamte Wahlperiode und regiert wurde von den gerade abgewählten kommissarisch. Die Kommunikation über unterschiedlichste Generationen von sozialen Netzwerken hatte dazu geführt, dass das Land aus Grüppchen bestand, die sich dermaßen hermetisch voneinander trennten, dass sie zu anderen Zeiten ohne weiteres als eigene Nation bezeichnet worden wären. Einzig die räumliche Verteilung aller Gruppen über die gesamte Fläche der Republik verursachte die Illusion einer Nation. Ansonsten entwickelten sich die Realitäten in gänzlich verschiedene Richtungen. Nicht nur wurden unterschiedliche Sprachen und Dialekte gesprochen, entgegengesetzte Wertevorstellungen und Rechtsauffassungen waren keine Seltenheit.

Es war eine Frage der Zeit, wann die Rückbesinnung auf die Romantik einsetzen würde. Mitte des 19. Jahrhundert war der deutschsprachige Raum in der Mitte Europas ebenfalls alles andere als freundschaftlich verbunden. Ein verschlungenes Durcheinander an Kleinststaaten, oft kaum größer als Städte, die sich durch eine eigene Identität, eigene Maße, Währungen, Herrschaftszeichen und nicht zuletzt eigene Armeen gegenüber ihrer Nachbarstaaten abgrenzten.

Die Romantik schuf das verklärte Bild einer Nation. Eine Bewegung, der es darum ging, Gemeinschaftlichkeit zu konstruieren. Eine Nation konnte nur geschaffen werden, wenn man sich auf Landschaften einer gemeinsame Heimat, auf Helden einer gemeinsamen Geschichte, auf die Poesie einer gemeinsamen Kultur beziehen konnte. Ein von dem bayrischen König Ludwig I. errichtete und nach dem germanischen Götterhort Walhalla benannte, die Donau überblickende Tempel ehrte bedeutende Persönlichkeiten “teutscher Zunge”. Von der Demokratie war also nicht mehr viel übrig. Obwohl viele nach einem Diktator riefen, waren die Gegenstimmen zu groß. Wann immer etwas entschieden werden musste, waren Einzelgängerei und mangelnde Entschlussfähigkeit der Grund, dass es gehörig daneben ging.

Die Bundeszentrale für Politische Ordnung kam deshalb nach aufwändigen Studien zu dem Schluss, dass eine neue kulturelle Identität benötigt wurde, um das Volk aus freien Individuen und kleinen, kaum beeinflussbaren und kompromisslosen Gruppen zu einer großen Nation aneinander zu fesseln, die in der Lage war, die großen nationalen Probleme der kommenden Jahrhunderte anzugehen. Internationale Organisationen zur Lösung globaler Probleme waren Mitte des 21. Jahrhunderts aufgelöst worden.

Seit der Einführung der Staatsberatenden künstlichen Intelligenz, die in den Rechenzentren der Bundesanstalt für Zukunftsanalyse zum Wohle der Nation vorausschauende Kalkulationen anstellte, konnten Entscheidungen endlich nahezu risikofrei und fast objektiv gefällt werden. Die Rettung der zukünftigen Generationen an Deutschen Vollbürger*innen war selbstverständlich oft nur entgegen dem Willen der lebenden Generation und fast ausschließlich entgegen dem Willen der Vollbürgeranwärter*innen möglich.

Man hatte aus der Geschichte gelernt und es vermieden, die Herrschaftsordnung in eine Diktatur zu ändern. Obwohl das verwaltungstechnisch wesentlich einfacher gewesen wäre, wollte man seine internationale Integrität bewahren und das touristisch äußerst lukrative Image als eine der letzten westlichen Demokratien beibehalten. Das Bundeszentrum für Politische Ordnung war an einer größtmöglichen Stabilität interessiert. Um Umstürzen und Revolten, Putsche, Revolutionen, Aufmärschen und lärmenden Demonstrationen zuvorzukommen hatte man frühzeitig in die politische Ordnung investiert und das “Programm Walhalla II” geschaffen. Walhalla II war zuerst ein Arbeitstitel gewesen. Die Arbeitsgruppe für Politische Osmose hatten ein abgelegenes bayrisches Tal vom Internet genommen und in einer lokalen Netzsimulation mit injezierter und induzierter Identität experimentiert. Die Erkenntnisse aus der Immersion, die längst in unterschiedlichste Bereiche wie der Kriegsführung, Sexualpraktiken, dem Theater oder an Maschinenleitständen Einzug gehalten hatte, waren auf die Schulungen in Politischer Ordnung übertragen worden und hatten sich dort als äußerst effektiv erwiesen. Die Versuchspersonen wurden einzeln oder in kleinen familiengroßen Gruppen an das System angeschlossen und betraten das Programm immersiv.

„Deutschland“, hieß die Erfahrung, um die es ging. „Du bist Deutschland!“

Es war eine Überlagerung an gemeinsamen durchlebten Erinnerungen, gemeinsamen Erfahrungen, gemeinsamen Geschmäckern, gemeinsamen Freuden und Lüsten. Trotzdem die Erfahrung für jede Testperson anders war (die künstliche Intelligenz hatte Zugriff auf die zentral gespeicherten Web-Vergangenheit der Bürger*innen und konnte daher in unvorstellbarer Schnelligkeit alle Eigenheiten und Vorlieben der Bürger*innen rekonstruieren) waren sich die Testpersonen nach der Benutzung des Programms sehr verbunden. Einige Bürger*innen sprachen von emotionaler Verbundenheit, andere waren ihrer Nation nun in einer Weise verfallen, die man zuvor nur in der körperlichen Liebe kannte, bereit zur Selbstaufgabe für eine Nationssimulation, die ihnen zur Befriedigung aller Bedürfnisse versprach. Dass die Simulation der Nation psychologisch kaum mehr war als ein verzerrender Spiegel, verschwieg man den entzückten und selbstverliebten Versuchspersonen.

Nachdem sich Walhalla II als Betaversion also bewährt hatte, wurde ein hoch dotierter Gestaltungswettbewerb für den Entwurf der neuen Nationalmonumente ausgeschrieben. Obwohl viele der Einreichungen sich um historistische Bezüge bemühten, mit Säulen, Pilastern und Referenzen arbeiteten, war darunter jedoch keine Einreichung, die daran nicht an einer durch und durch plumpen Ausführung scheiterte. Die hochkarätig besetzte Jury wählte auch einige Entwürfe in die letzte Runde, die sich auf die humanistischen Ideale der Moderne bezogen. Die Entscheidung der Jury fiel letztlich jedoch einstimmig auf eine Einreichung, die mit einer Elektronikfachmarktkette zusammenarbeiten wollte. Die Urheber versprachen, bei gleichem Budget doppelt so viele Monumente errichten zu können, wie gefordert. Auch die Ästhetik war beeindruckend und orientierte sich stark an der letzten Produktgeneration der Personal Adapters und wurde mit dem Prädikat “Besonders Zeitgemäß” zum Sieger gekürt. Es dauerte nicht lange und in ganz Deutschland schossen neuartige Objekte in die Höhe. Die “Walhalla Connectors” wurden entsprechend der Größe der jeweiligen Agglomerationen in unterschiedlichen Abmessungen und mit unterschiedlich vielen Zugangsöffnungen errichtet und glichen in Dörfern eher Stadtmöbeln, während sie in exponierten Innenstadtlagen der deutschen Metropolen die Kathedralen, Regierungsbauten und Einkaufszentren in den Schatten stellten. 

Die Walhalla Connectors waren Monument und Docking Station in einem, Treffpunkt für Freund*innen (im Besitz der Vollbürgerwürde) und Rückzugsort, hier wurde gebetet und lautstark Feedback gegeben, den einen war der Walhalla Connector beinahe, was früher als Sex-Kino bekannt war, andere nutzen ihn als Beichtstuhl. Gruppen an Jugendlichen trafen sich an den Connectors, um gemeinsam spielerisch die Grenzen ihres Landes zu kontrollieren, Frauen mittleren alters kämpften hier gegen die Übermacht an Bedrohungen, welche die neue Zeit bereithielt.

Alle vier Jahre war eine jede Vollbürger*in dazu angehalten, in den Connectors die Regierung zu wählen. Aber obwohl jede Vollbürger*in in den immersiven Connectors etwas anderes sah, waren doch alle connected und Teil der gleichen Geschichte. Die Bürger*innen verbanden sich entweder kabellos mit dem Walhalla Connector oder stöpselten sich vor Ort mit ihren Sensorik-Sleves, ein, um mit dem ganzen Körper in das Neue Deutschland einzutauchen. Die Connectors waren von tiefschwarzer Farbe und kristallener Oberfläche und erinnerten gleichsam an die exotische Blüten fleischfressender Pflanzen und einen Radiowecker. Ähnlich wie bei den Nationaldenkmälern und Bismarck-Türmen, die am Ende des 19. Jahrhunderts im ganzen Land gebaut wurden, war auch jeder Walhalla-Connector mit einer überdimensionalen menschlichen Figur gekrönt. Doch statt Bismarck waren es die Vollbürger*innen selbst, deren Torsi abwechselnd und manchmal flackernd wie aus Kalkstein gemeißelt mit expressiven Gesten auf den podestartigen Connectors thronten. Das entstellte Selfie-Grinsen war nach und nach einem würdevollen Gesichtsausdruck gewichen, denn jede ausgewählte Vollbürger*in war nun gleichzeitig kleiner Baustein, stolze Repräsentant*in und Avatar der besten aller Nationen.